Vor vier Jahren konzentrierte sich der griechische Europawahlkampf auf die Medienpräsenz von Alexis Tsipras als europäischen Spitzenkandidaten. Tsipras demonstrierte damals seine Nähe zur heutigen Spitzenkandidatin der Grünen, Ska Keller.

Keller reiste im September 2015 bei den vorgezogenen Neuwahlen fürs Parlament eigens zur Unterstützung Tsipras nach Athen. Heute möchte sich Tsipras mit seiner Partei SYRIZA nicht festlegen, welcher der sechs Spitzenkandidaten unterstützt werden soll. Eindeutig ist nur, dass er Manfred Weber als seinen persönlichen Feind ansieht.

Beinahe jedes Wahlversprechen wurde gebrochen

Die Wandlung von Alexis Tsipras, der vor vier Jahren als Spitzenkandidat der europäischen Linken antrat, die „Europäische Union von innen zu reformieren“ hin zum Verfechter wirtschaftsliberaler Politik, ist ohnegleichen. Es gibt kaum ein Wahlversprechen, welches er noch nicht gebrochen hat.
 Wirtschaftlich mögen die Statistiken, so wie von den Kreditgebern verlangt, gut erscheinen. In der Praxis merkt kaum ein normaler Bürger etwas von dem seitens der Regierung überall gefeierten „sauberen Ende der Krise“. Im Gegenteil.

Einer von vier Arbeitnehmern im Land muss mit weniger als 50 Euro pro Monat auskommen, 251.020 Arbeitnehmer hatten im vergangenen Jahr pro Monat einen Lohn von 250 Euro oder weniger. Zum Vergleich: 2015, als Tsipras antrat, waren es 190.927 Arbeitnehmer, zu Beginn der Krise, 2010, gar nur 64.110.

Auf der anderen Seite der Skala, bei den hohen Einkommen, sieht es genau umgekehrt aus. 2010 verdienten 107.905 Arbeitnehmer mehr als 3.000 Euro monatlich, 2019 waren es nur noch 69.549. 2009 wurden 21 % der Neueinstellungen in der Privatwirtschaft mit „flexiblen“ Arbeitsverträgen begründet. 2018 waren es 54,3 %. Ein Jobwunder, wie es Tsipras gern feiert, sieht wahrlich anders aus.

Opposition setzt auf nationale Themen – was bleibt ist ein Duell zwischen Tsipras und Mitsotakis

Die Zahlen stammen vom Gewerkschaftsverband GSEE. Die GSEE ist unter Arbeitnehmern wegen ihrer Regierungsnähe mehr als umstritten. So verwundert es kaum, dass die größte Oppositionspartei, die Nea Dimokratia, als Mitglied der europäischen Volkspartei vor allem auf die innenpolitischen Themen setzt. Für die europäischen Themen übernimmt sie schlicht die Positionen des Spitzenkandidaten Manfred Weber.

Premierminister Alexis Tsipras, Oppositionsführer Kyriakos Mitsotakis und die einheimische Presse haben den gesamten Europawahlkampf in ein Duell zweier Politiker verwandelt. Von den zeitgleich abgehaltenen Regional- und Kommunalwahlen im Land ist nur „unter ferner liefen“ die Rede.

Parteien, die eine eindeutige Position zur Europäischen Union einnehmen, kommen in den zahlreichen Talkshows und Nachrichtensendungen des Rundfunks nicht wirklich zum Zug. Sie nehmen vielmehr die Rolle von Statisten ein, die, wenn sie kurz einmal dran kommen, bei jedem zweiten Wort entweder vom Moderator oder einem Vertreter der beiden großen Parteien unterbrochen werden.

Ausrichtung der übrigen Parteien

Von den im Parlament vertretenen Parteien setzen die sozialdemokratische KinAl (PASOK) und die liberaldemokratische Partei To Potami auf EU-Werte und einen europäischen Konsens. Die kommunistische KKE lehnt EU und NATO ab, stellt sich aber zur Wahl, um ihre Ablehnung und den Widerstand gegen eine weitergehende Integration „der Interessen des Großkapitals“ auch im EU-Parlament zu demonstrieren.

Die Union der Zentristen und die Unabhängigen Griechen profilieren sich mehr mit nationalen als mit europäischen Themen und die nationalsozialistische Goldene Morgenröte propagiert ein Europa der Nationen. Die rechtsextreme Partei erwirkte mit Protesten beim Rundfunkrat das Recht, Wahlwerbung im Fernsehen zu zeigen. In Talk-Shows wird die Partei nicht eingeladen.

Darüber hinaus tritt eine Reihe weiterer Parteien an, von denen jedoch nur wenige ernsthaft Chancen auf ein statistisch bemerkenswertes Wahlergebnis haben. Die Drei-Prozent-Sperrklausel für die Wahlen bedroht Umfragen gemäß bereits die Union der Zentristen, To Potami und die Unabhängigen Griechen.

So haben Varoufakis´ DiEM25, die Popular Unity des früheren Ministers von Tsipras, Panagiotis Lafazanis und die Plevsi Eleftherias von Tsipras früherer Freundin, Anwältin und Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou kaum eine reelle Chance auf einen Parlamentseinzug. Tatsächlich dürfte Varoufakis, der für seine europaweit antretende Partei in Berlin kandidiert, in Deutschland erheblich höhere Wahlchancen haben als in der Heimat.

„Griechische Lösung“ – gute Chancen eines Rechtspopulisten

Ein Erfolg wird bei den kleineren Parteien höchstens der Elliniki Lysi (Griechische Lösung) des früheren Parlamentsabgeordneten und Herausgebers, Kyriakos Velopoulos, zugetraut. Es ist bezeichnend, dass Velopoulos´ Aufstieg eher mit den Protesten gegen den Kompromiss im Namensstreit mit Nord-Mazedonien als mit europäischen Themen zusammenhängt. Der Rechtspopulist Velopoulos, der in Fernsehsendungen einschlägige Bücher aus seinem Verlag samt esoterischen Heilmitteln vertreibt, nutzte seine Sendezeit auch, um sich als Freund Russlands und als Patriot zu profilieren.

Die Prognosen stützen sich auf Umfragen, deren Wahrhaftigkeit in Griechenland von allen Parteien besonders stark angezweifelt wird. Allerdings erfüllen die Umfragen, zumindest bei den unentschlossenen Wählern, durchaus die Voraussetzungen einer sich selbst bewahrheitenden Prophezeiung. Denn keiner der Wähler möchte „eine verlorene Stimme“ abgeben.

Die beiden großen Parteien bemühen sich derweil, die gesamte Wahl zu einem Duell herabzuwerten. Parlamentsdebatten werden unter tatkräftiger Mithilfe des Parlamentspräsidiums in reine Redeschlachten von Tsipras und Mitsotakis verwandelt. Das Parlamentspräsidium ändert die Termine für Redezeiten der beiden Kontrahenten so, dass sie in die Zeit der Hauptnachrichtensendungen fallen. Beiden Rednern gesteht das Präsidium nahezu unbegrenzte Redezeit zu, während die übrigen Abgeordneten nach wenigen Minuten abgewürgt werden.

Der Staatssender ERT überträgt jede Aktion des Premiers, jede Wahlkampftour und jedes von Sicherheitskräften überwachte Bad in einer handverlesenen Menge. Oppositionelle Sender verfahren nach gleichem Muster mit ihrem Primus Mitsotakis.

Wahlgeschenke oder Reformen? Dreizehnte Monatsrente und Ratenzahlung

Tsipras nutzt seine durch Transfers von anderen Parteien gewonnene Parlamentsmehrheit dazu, kurz vor Torschluss die Wähler zu kaufen. Wie kann man es anders nennen?

Die Regierung betrieb viereinhalb Jahre eine Wirtschaftspolitik, die mehr als vier Millionen Griechen - mehr als die Hälfte der Steuerzahler - zu Steuerschuldnern machte, weil die verlangten Abgaben nicht gezahlt werden können. Letzteres manifestiert sich nicht zuletzt mit der am Mittwoch veröffentlichten Einkommensstatistik.

Für die Rentner, die je nach Zählweise seit 2010 mindestens 13 Rentenkürzungen hinnehmen mussten, spendiert Tsipras eine „dreizehnte Monatsrente“. Gleichzeitig steht eine bereits auf Druck der Kreditgeber beschlossene Steuerreform bevor, deren Auswirkungen vor allem Geringverdienern und Beziehern geringer Renten den Verlust eines Monatseinkommens beschert.

Die „dreizehnte Monatsrente“, die in der laufenden Woche im Eilverfahren durchs Parlament gepeitscht wurde, soll den Rentnern noch vor den Wahlen eine Überweisung aufs Konto bescheren. Es ist keine komplette Rente, sondern eine von der Höhe der Altersbezüge abhängige Zulage, die maximal 500 Euro beträgt.

Tsipras gab Freiberuflern, Kleinunternehmern und in den Ruhestand getretenen früheren Selbstständigen mit einer Ratenregelung für Steuer- und Abgabeschulden am Mittwoch einen Strohhalm, der für eine wirtschaftliche Erholung zu wenig, fürs Sterben aber zu viel ist. Die betreffende Personengruppe sitzt auf buchhalterisch erfassten Steuerschulden, die keineswegs beglichen werden können. Zudem werden nicht geregelte Steuerschulden täglich neu hoch verzinst und mit Säumniszuschlägen versehen. Auf diese Art und Weise rutschten Hundertausende in eine Schuldenspirale aus der es keinen Ausweg gibt.

Als Beispiel sei ein früherer Ladenbesitzer genannt, der in der Krise - kurz vor dem Rentenalter stehend - in die Pleite ging. Die Sozialversicherungsbeiträge liefen in diesem Fall bis zur endgültigen Schließung des Unternehmens weiter. Das Unternehmen kann jedoch erst dann endgültig geschlossen werden, wenn es steuerlich ohne ungeregelte Schulden ist. Als Ergebnis des dadurch entstehenden Finanzchaos kann unser Musterladenbesitzer weder die Rente beantragen, noch sein Unternehmen schließen. Zudem muss er vor dem Rentenantrag sämtliche Sozialversicherungsschulden regeln. Die Schulden wachsen derweil Dank der hohen Zinsen ins – niemals eintreibbare – Unermessliche.

Wirtschaftlich lebensfähige Selbstständige des Mittelstands können ihren Betrieb wegen der gleichen Problematik kaum fortführen. Zudem sind sie von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen, weil sie die hierfür erforderliche Steuer- und Abgabenkonformitätsurkunde nicht vorweisen können.

Die am Mittwoch im Parlament verabschiedete gesetzliche Möglichkeit, die Schulden in maximal 120 Monatsraten abzubauen und als Bonus einen Teilerlass der Säumniszuschläge zu erreichen, entspringt somit realökonomischer Logik. Tsipras verkauft es aber als Geschenk an die notleidenden Bürger. Er muss sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, warum er diesen logischen Schritt nicht viel früher vollzogen hat. Damit hat er, so argumentiert Mitsotakis, seine Haushaltszahlen schön gerechnet, aber das notwendige Wirtschaftswachstum abgewürgt.

Mehrwertsteuer: Rücknahme der Erhöhung wird als Geschenk verkauft

Eines der weiteren Wahlgeschenke von Tsipras betrifft die Umsatzsteuer. Diese soll für Gastronomieprodukte und Grundnahrungsmittel von 24 auf 13 Prozent gesenkt werden. Senkungen des Steuersatzes gibt es auch für Energie, respektive Elektrizität und Gas. Letztere Senkung kommt, nach vorherigen verkappten Erhöhungen, vor allem den staatlichen Energiemonopolisten und den wenigen privaten Unternehmen der Branche zugute.

Die Mehrwertsteuersenkung für Speisen und Wasser – Kaffee, Erfrischungsgetränke und Alkohol sind ausgenommen – setzt diese Produkte lediglich auf den Status quo ante vor Tsipras. Tsipras hatte die entsprechenden Steuern während seiner Regierungszeit erhöht. Darüber hinaus verspricht Tsipras den Griechen weitere Gaben, die aber erst Ende des Jahres - also nach einem Sieg bei den nächsten Parlamentswahlen, diskutiert werden sollen.

Kurz, das was im europäischen Ausland als „teure“ Wahlgeschenke von Tsipras die dort antretenden Politiker erzürnt, ist nichts weiter als eine propagandistisch gut verpackte Mogelpackung. Die Reaktionen aus dem Ausland stärken indes Tsipras reichlich angekratztes Profil als „linker Politiker“.

Siebentagewoche und Gesundheitssystem: Die Opposition weiß sich nicht gut zu verkaufen

Für Tsipras Profilierung leistet Mitsotakis unfreiwillig Mithilfe. Der Parteivorsitzende der Nea Dimokratia ist seinem Freund Manfred Weber in vielem ähnlich, auch in der Rhetorik. Webers unverblümte Art, seine Standpunkte mit ruhigen Worten zu vertreten, mag in Westeuropa bei seinen Anhängern Zuspruch hervorrufen. Im Balkanstaat Griechenland wirkt Mitsotakis Auftreten eher blutleer und phlegmatisch. Zudem liefert er Steilvorlagen für die Propaganda-Abteilung von SYRIZA.

Mitsotakis sprach die Ausdehnung der Arbeitswoche von Unternehmen auf sieben Tage pro Woche als begrüßenswerte Reform an. Er argumentierte, dass dies, wenn es im Einklang der Arbeitnehmer mit ihrem Arbeitgeber geschehe, die Wirtschaft fördern könne. Tsipras Team griff es auf und beschuldigte Mitsotakis, er wolle die Griechen zu sieben Tagen Arbeit die Woche verdonnern.

Die Art, mit der die Nea Dimokratia hinterher versuchte, den Sachverhalt zu klären, wirkte für viele Griechen hilflos. Tatsächlich hat aber Tsipras selbst bei einem Besuch in einer Tabakfabrik vor knapp einem Jahr das „innovative Unternehmen“ für seine Arbeitnehmerfreundlichkeit gefeiert. Das betreffende Unternehmen hat eine Siebentagewoche. Zudem hat die Regierung Tsipras mit gesetzlichen Regelungen die Siebentagewoche und auch bis zu zehn Tage ununterbrochene Arbeit von Arbeitnehmern ermöglicht.

Mitsotakis philosophierte, dass es doch möglich sein müsse, Patienten staatlicher Krankenhäuser für Tomografien in private, von den Krankenkassen zu zahlende Geräte zu legen, wenn der Staat selbst keine Geräte zur Verfügung habe. Er argumentierte, dass es kostengünstiger sei, die Dienstleistung statt gleich das gesamte Gerät zu kaufen. Tatsächlich fehlt es in vielen staatlichen Hospitälern des Landes entweder am entsprechenden Gerät oder an den Mitteln, vorhandene Geräte zu reparieren oder mit Fachpersonal zu bedienen. Tsipras´ Wahlkampfteam machte daraus einen neoliberalen Angriff auf das öffentliche Gesundheitssystem.

Trotz so viel freiwilliger und unfreiwilliger Unterstützung aus dem In- und Ausland schafft es auch das Team von Tsipras, Eigentore zu schießen. So zeigte der erste Wahlwerbespot von SYRIZA den nationalsozialistischen Diktator Ioannis Metaxas unter dem Motto „die Kraft der Griechen“ als Staatsmann.

Am Ende der illustren Personenreihe aus den letzten 198 Jahren der neuzeitlichen griechischen Geschichte wurde Tsipras gezeigt. Die Botschaft von Tsipras als Staatsmann sollte vermittelt werden. Darüber hinaus zeigte der gleiche Spot weitere Politiker, die für die Verfolgung kommunistischer, liberaler und sozialdemokratischer Bürger verantwortlich waren. Der Spot wurde schnell durch einen anderen ersetzt. Nun zeigt der SYRIZA-Werbespot Mitsotakis und seine Thesen. Die Aussage ist nun: „Wählt uns, sonst kommt der an die Macht“.

Der Fauxpas mit den Bürgermeisterkandidaten – ein schlechtes Omen für Tsipras!?

Schließlich verkündete SYRIZA für die Kommunalwahlen eine Liste von Bürgermeisterkandidaten, die von der Partei unterstützt werden. Offiziell treten Wahllisten bei Kommunal- und Regionalwahlen ohne Parteinamen an. Die Parteizugehörigkeit wird durch das offiziell ausgesprochene Chrisma der Parteien manifestiert. Allerdings meldeten sich bereits wenige Minuten nach der Bekanntgabe der offiziellen Liste durch die Partei zahlreiche Listen, die jegliche Nähe zu SYRIZA abstritten.

Letzteres mag ein Omen sein, dass der von Wahlforschern prognostizierte Erdrutschsieg für Mitsotakis trotz aller Wahlgeschenke von Tsipras und trotz des Versprechens weiterer Gaben durchaus möglich ist. Wenn dieser Fall eintritt, dann sind vorgezogene Parlamentswahlen in Hellas fast unvermeidlich. Eine Niederlage Mitsotakis würde dagegen dessen politisches Aus besiegeln. Die folgenden Turbulenzen in der Oppositionspartei würden dann Tsipras´ Wahlsieg bei den für Oktober angesetzten Parlamentswahlen wahrscheinlich machen.

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